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Freitag, 27. März 2015

Wunder Leben!

Als im vergangenen Winter viel Schnee lag, hing ich in einem Strauch einen Meisenknödel auf. Es brauchte ein paar Tage, bis die Meisen daran gingen. Auch eine Taube und eine Amsel hatten Interesse an diesn Körnern. Sie waren aber zu groß und zu schwer und konnten sich nicht an dem Netz festhalten. "Die Trauben hingen zu hoch." Als jedoch die Meisen kamen und kraftvoll in dem Knödel herumpickten, fiel immer ein Bröckchen auf den Boden. Da waren Taube und Amsel gleich zur Stelle und pickten sich ihren Teil. So erreichten sie doch noch ihr Ziel, etwas vom großen Kuchen abzubekommen. Ich glaube, das gilt auch für uns Menschen. Wenn du aufmerksam bist, fällt immer etwas ab, auch für dich. Schau nur genau hin! Dabei geht es um die Aufmerksamkeit und das Gewahrsein.
Jetzt im Frühjahr wärmt die Sonne die Natur und bringt sie zum aufwachen. Ein paar Sonnenstrahlen fallen auch für dich ab. Du brauchst nichts dafür tun. Stell dich einfach in die Sonne und es geschieht. Du erwachst, wie die Natur!
Du kannst dir auch die Weisheit von Taube und Amsel aneignen und dir zu Herzen nehmen. Immer fällt irgendwo etwas für dich ab. Im Karneval die Kamelle, im Winter die Wärme in einem Kaufhaus, hier und da ein paar Rabatte und Peisnachlässe, ein Probierstand im Supermarkt, eine kleine Gabe auf dem Wochenmarkt, ein Hustenbonbon und ein Paket Taschentücher in der Apotheke, eine Scheibe Wurst beim Metzger und ein freundlicher Hinweis einer Verkäuferin im Modegeschäft. Vielleicht lässt du selber mal hier und da etwas liegen für einen anderen Menschen. Ein kleines Bildchen, einen Aufkleber, eine Dose Futter für das Tierheim. So funktioniert der Kreislauf. Du empfängst und du gibst, du bist ein Teil vom Ganzen. Du kannst es bewusst mitgestalten und erlebst Wunder über Wunder! Faszinieren, nicht?

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Donnerstag, 26. März 2015

Steh auf!

Jesus befindet sich in guter Gesellschaft mit Marius Müller-Westernhagen, Bushido, Culcha Candela, Betontod und den Toten Hosen. Sie alle und noch einige Künstler mehr sangen oder sprachen diese Aufforderung aus: „Steh auf!“ 
Das sind energische Worte! „Steh auf!“ Mit Ausrufezeichen! Jesus richtet diese Worte an den verstorbenen Sohn einer Witwe. Dieser wird gerade auf der Bahre liegend weggetragen. „Steh auf!“ ruft Jesus in einem eindeutigen Befehlston. Man stelle sich einmal vor, er würde folgendes sagen: „Junger Mann, es wäre doch schön für deine traurige Mutter und für alle anderen Verwandten, wenn du es dir mit dem Sterben noch einmal überlegen würdest. Die ganze Zukunft liegt noch vor dir! Willst du das alles wegwerfen? Ist deine Zeit denn wirklich schon gekommen?“ Das wären zwar sehr einfühlsame Worte gewesen und sicherlich angemessen für einen Toten und zugleich tröstlich für die Mutter. Hätten solche Worte jedoch ausgereicht, einen Toten aufzuwecken? Jesus entscheidet sich für die harte Tour. „Steh auf!“ 
Die Band Betontod singt in ihrem Lied: „Ich will Dich nie wieder am Boden sehen, es ist Zeit aufzustehen und nach vorne zu sehen! Ich will Dich nie wieder am Boden sehen, steh auf!“ Interessant, dass sowohl „Betontod“ als auch die „Toten Hosen“ das Wort „Tod“ im Namen tragen. Musiker mit solchen Namen werden so zu Verkündern des Evangeliums vom Aufstehen! „Am Boden liegen – und aufstehen“ – darüber möchte ich gerne noch ein wenig intensiver nachdenken. Als kleines Kind bin ich mit meinen Eltern und Geschwistern am Sonntag spazieren gegangen. Mein Vater erzählt mir heute manchmal, dass ich mich einfach zwischendurch auf die Straße setzte und nicht wieder aufstand. Alle seine Bitten und Appelle halfen nichts. Ich blieb da einfach sitzen und die ganze Familie wartete, bis ich von selbst wieder aufstand. Aus der Perspektive des am Boden liegenden zeigt sich: Der muss auch aufstehen wollen. Die Aufforderung muss das Ziel zuerst einmal erreichen. 
Wir Menschen können nicht früh genug damit beginnen, das wieder Aufstehen einzuüben. Wir alle haben irgendwann gelernt, das erste Mal auf eigenen Füßen zu stehen und bewegten uns haltsuchend und wackelig auf den Beinen an den Objekten im Wohnzimmer entlang. Dann gingen wir freihändig ohne „Objektschutz“ zwischen Mama und Papa hin und her, strahlten über die ersten wirklich freien Schritte und … wir fielen! Das Fallen gehört zum Laufen lernen dazu. 

Mittwoch, 25. März 2015

Erhol dich gut!



Das Wort „erholen“ kommt ursprünglich aus der Medizin. Nach einer Phase der Krankheit geht es darum, wieder gesund zu werden.  Der Körper soll nach einer Anstrengung wieder Zeit bekommen zur Regenerierung, vielleicht nach dem Motto: „Hole dir deine Gesundheit wieder.“
Wenn wir uns vor dem Urlaub wünschen: „Erhol dich gut!“ dann verbinden wir damit den Wunsch nach einer Regeneration. Das setzt ja voraus, dass der entsprechende Mensch tatsächlich krank war oder eine anstrengende Phase hinter sich gebracht hat.
Es wäre schön, wenn wir auch die Arbeitsphasen im Leben so gestalten, dass wir nicht erholungsbedürftig werden. Interessanterweise sprechen wir auch nicht von Erholungsbedürftigkeit nach einem anstrengenden Sport. Ein anstrengender Sport führt zur Erholung und eine anstrengende Arbeit zur Erholungsbedürftigkeit.
Ich glaube, da stimmt was nicht.
Statt „Erholung“ rede ich lieber von „Pause“. Untersuchungen zeigen, dass wir Menschen uns nur 90 – 120 Minuten konzentrieren können und dann eine Unterbrechung brauchen. Einfach für ein paar Minuten nichts tun und Körper und Geist zur Ruhe kommen lassen. Wenn wir am Tag genug pausieren, wird der Urlaub nicht zu einer Art selbstfinanzierter Reha Maßnahme.  Der Urlaub wird zur zweckfreien Zeit und zu einer ausgedehnten Pause.
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Dienstag, 24. März 2015

Werde wesentlich



Auch diesen Vers habe ich gefunden bei Angelus Silesius im „cherubinischen Wandersmann.“
„Mensch, werde wesentlich; denn wenn die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“

Es gibt das „Wesen“ und das,  was „dazu fällt“.  Es gibt einen unzerstörbaren Kern, und es gibt die vergängliche Geschichte. Es geht etwas und es bleibt etwas. Jeden Tag fällt uns etwas zu. Ein Mensch kreuzt unseren Weg, wir sitzen am Frühstückstisch, wir erledigen die Alltagsgeschäfte. Wir regen uns auf, wir werden erschüttert. Wir geben den „vorübergehenden“ Erlebnissen unendlich Bedeutung. Nicht zuletzt besetzen uns manche Ereignisse so stark, dass wir über Jahre traumatisiert werden.
„Mensch, werde wesentlich!“ Das, was wir erleben soll uns dazu dienen, dass wir daran wachsen und reifen. Häufig bleiben wir jedoch bei den Dingen stehen und nicht beim Wesentlichen.
Als Kind kommst du z.B. zu deiner Mutter und beschwerst dich: „Mama, der Bernd hat mich gehauen!“ Dann hörst du deine Mutter sagen: „Ach du Armer, das hat er bestimmt nicht mit Absicht gemacht.“ „Doch, hat er...!“ Ihr Beide bleibt in der Szene, bis sie sich irgendwann friedlich oder sonst wie auflöst.
Sinnvoll ist es, wenn du dich irgendwann als Erwachsener mit den dahinter verborgenen Themen auseinandersetzt. Wie erlebst du den Umgang mit Macht und mit Gewalt? Wie gehst du um mit Schmerzen, Kränkungen und Ablehnungen? Wer ist dieses „Du“, dass das da gerade erlebt? Wenn du das machst, trägst du etwas dazu bei, wesentlich zu werden.
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Montag, 23. März 2015

Angeschlagenes Geschirr hält gut zwei Menschenalter. (aus Russland)

Ich hänge an meinen Töpfen, an meinem Geschirr, an meinem Besteck. Ich brauche nicht alle Jahre davon etwas Neues. Neues Geschirr im Laden lacht mich nicht an. Ich gehe gleichgültig daran vorbei. Mit meinen Tellern und Tassen bin ich sehr zufrieden. Die Tassen sind schlicht, sie sind rundum dicht und halten jede Flüssigkeit. Auf den Tellern passt so viel, dass ich locker davon satt werden kann. Mein Geschirr lässt sich gut spülen und ist äußerst pflegeleicht. Auch die Jahre im Geschirrspüler haben sie schadlos überstanden. Die Teller haben noch keine einzige Macke, denn ich bin sorgfältig damit umgegangen. Nach so vielen Jahren mute ich dieses Geschirr auch meinen Besuchern zu. Bislang hat sich noch niemand darüber beschwert und alle essen brav von diesem Geschirr ohne Anzeichen von Ekel oder Ablehnung.
Zugegeben, die eine oder andere Tasse ist nicht mehr ganz heile. Von zwölf Tassen sind drei angeschlagen, wie man so schön sagt. Ich habe sie nicht nach hinten gestellt. Ich entscheide nach dem Zufallsprinzip. So müssen auch Gäste aus diesen Tassen trinken. Mir fällt das nicht einmal mehr auf. All dieses Geschirr gehört zu mir und ich habe mir fest vorgenommen, sie bis zum letzten Tag meines Lebens zu benutzen. Meine Möbel halten nicht so lange aus. Stoffe verschleißen sichtbarer als Porzellan.
Wir werfen viel zu früh viel zu viel weg. Trödelmärkte machen mich traurig. Da stehen all die Dinge, die angeschlagen und aussortiert sind. Ich will sie nicht haben, denn ich bin mit meinen Dingen ganz zufrieden. Ich möchte sie auch nicht zum Trödel bringen. Wenn ich diese Welt verlasse mögen meine Erben entscheiden, ob mein Geschirr noch taugt für ein weiteres Menschenalter.
Mein Geschirr ist zuverlässiger als meine Berufslaufbahn und meine Beziehungen. Sie sind treuer als das Geld auf meinem Konto und meine zunehmenden Alterskennzeichen. Sie stehen gleichmütig und treu in ihrem Schrank und warten auf den nächsten Einsatz, ohne Klage und ohne sich über das Alter zu beschweren.
Sie sind es sogar wert, darüber zu meditieren und darüber in eine Meditationshaltung zu kommen. Das ist ein wichtiger Aspekt: Es geht mir um das Würdigen, Werschätzen und Anerkennen. Wer dem angeschlagenen Geschirr noch zwei Menschenalter schenkt, dem kann man sich gut mit seinen Sorgen anvertrauen. Der wird sorgsam und liebevoll damit umgehen.
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Sonntag, 22. März 2015

Ich halte Ausschau nach dir

In einem Buch bleibe ich bei dem Satz hängen: "Ich halte Ausschau nach dir." Ich weiß gar nicht, warum mich der Satz so berührt.
Immer wieder einmal kommt es vor, dass ich mich verabrede. Vor allem, wenn der Treffpunkt unüberschaubar oder unvertraut ist und mich verwirrt, habe ich gerne eine kleine Sicherheit. "Wie finde ich dich?" heißt dann meine Frage. Natürlich kann ich schauen im Café auf dem Platz zwischen den vielen Fußgängern wo die Person ist, mit der ich mich treffen will. Wenn ich aber höre, dass mir jemand sagt: "Ich halte Ausschau nach dir!" Dann bin ich beruhigt. Ich muss das nicht alleine hinbekommen. Mein Gegenüber unterstützt mich. Er schaut nicht wahllos in der Gegend herum und wartet still vor sich hin, liest ein Buch oder schreibt SMS. Da wirft jemand seine Fäden oder sein Netz aus, so dass ich nicht verloren gehen kann.
Im Schreiben merke ich, was mich berührt. Ich könnte meine Verabredung verpassen. Er oder sie ist nicht da und ich bleibe allein. Ich gehe verloren! Ich bin hilflos! Da springen ganz alte Muster an aus meiner kindlichen Vergangenheit.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter Ausschau nach mir gehalten hat wenn ich draußen spielte. Andere Mütter sind am Abend auf die Straße gegangen und haben nach ihren Kindern geschaut und gerufen. "Thomas, komm rein, es gibt Abendessen!" Meine Mutter hat einfach erwartet, dass wir als gut erzogene Kinder die Regeln beachten. Wenn wir Kinder das Haus betraten war unsere Mutter immer beschäftigt mit irgendeiner Arbeit. Etwas war immer zu tun. Da hielt niemand "Ausschau". Da gab es kein Erwarten oder Ausdruck von Wiedersehensfreude.
"Ich halte Ausschau nach dir!" Da werde ich erwartet! Da kümmert sich jemand um mich! Da bin ich für jemanden wichtig! Ich gehe nicht verloren! Das fühlt sich wirklich gut an, nicht wahr?

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Freitag, 20. März 2015

Wer die Menschen liebt hat immer eine große Familie


Dieser Spruch kommt aus Ägypten. Wir leben in einer Zeit, in der es Familien nicht immer leicht miteinander haben. Ehen gehen auseinander, Paare finden sich neu, Patchworkfamilien entstehen. Manche Singles sind nicht so stark eingebunden in einer Familie und verankern sich eher im Freundeskreis. Entscheidend ist für mich die Erfahrung, sein Leben nicht allein gestalten zu müssen. Ich bin eingebunden, verbunden, habe meinen Platz. Ich denke an meine Großfamilie mit Freundinnen und Freunden und umgekehrt hoffe ich auch.
Wer nicht lieben kann erfährt oft Einsamkeit. Mir gefällt der Gedanke aus Ägypten, wie du zu einer großen Familie kommst: Einfach die Menschen lieben. Die Liebe verbindet die Menschen überall auf der Welt. Du musst nicht einmal Blutsverwandt sein.
Wer die Menschen liebt, hat immer eine große Familie. Immer - das heißt wirklich jede Stunde, jeden Tag, in jedem Alter, bis zum Tod. Augustinus sagt: "Liebe und tu, was du willst."


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Donnerstag, 19. März 2015

Sag Ja zum Wandel




Für drei Jahre lebte ich bei einem Pfarrer, der einen Spruch liebte und ständig zitierte. „Nichts erfordert so viel Treue wie beständiger Wandel.“
Wir neigen dazu, die Dinge festzuhalten. Wir halten unser Haus fest, unsere Freundschaften, Gewohnheiten, unsere Versicherungen, das Geld und letztlich das Leben. Dahinter steht vielleicht das Bedürfnis nach Sicherheit. Materielle und personale Sicherheit geben uns ein stabiles und gutes Gefühl. Die größte Gefahr für die beständige Sicherheit ist der Wandel.
Ich erinnere mich noch eine Kindersendung von früher mit einem Liedvers: „Nichts soll bleiben wie es ist. Alles muss sich ändern.“ Kinder lieben das Abenteuer und das Neue. Das Leben möge spannend sein.  Zu Beginn des Lebens bist du neugierig und freust dich auf spannende Erfahrungen. Mit zunehmendem Alter jedoch schleicht sich das Bedürfnis ein nach einem Zustand jenseits der Anstrengung. So wirst du älter und hast so manches Ehepaar vor Augen, das nur noch in Ritualen lebt nach dem Motto: „Alles soll bleiben wie es ist, nichts darf sich ändern.“ Wir richten uns ein und finden das  so gemütlich und zuverlässig. Schließlich folgt die Zwei  immer der Eins, der Abend folgt immer dem Mittag und der Schlaf folgt dem Wachsein.
Wenn wir unser Leben aber aus einem anderen Blickwinkel der Vergänglichkeit und Begrenzung betrachten, zerrinnt uns alles zwischen den Fingern. Die Körperzellen, aus denen wir jetzt bestehen, werden sich morgen umgewandelt haben in eine andere Daseinsform. Den gestrigen Tag kann ich nicht wieder beleben. Die Kinder werden erwachsen und ich lebe unaufhaltsam dem körperlichen Tod entgegen. Das ach so stabile und sichere Haus verfällt trotz aller Sanierungen und bei genauerem Betrachten stelle ich fest: Die absolute Beständigkeit ist eine Illusion.
Was tun? Wenn du die Prozesse nicht aufhalten kannst, dann kannst du vielleicht mit Allem mitschwingen. Gib dich einfach einverstanden mit den Veränderungen. Seltsamerweise kannst du darin beständig sein. Du kannst jeden Augenblick deines Lebens dich damit einverstanden erklären, alles loszulassen und Neues zu empfangen. In dem Wort Treue steckt ja „Vertrauen“. „Nichts erfordert so viel Treue wie beständiger Wandel.“ Das heißt: Mit großem Vertrauen meisterst du den stetigen Wandel. So wird dein Bedürfnis nach Beständigkeit erfüllt in der Bejahung eines fortwährenden Veränderungsprozesses.
Für mich hat diese Idee des Wandels auch etwas mit der Schöpfung zu tun. Wir sind Mitschöpfer und Gestalter dieser Welt. Wir entwickeln uns ständig weiter, hoffentlich. Wir dürfen wie eine Pflanze wachsen und reifen und unser ganzes Potential ausschöpfen. Der Wunsch nach Pausen ist bestimmt hilfreich und ebenfalls notwendig. Die Wandlungen finden einfach statt, aber in den Pausen triffst du die Entscheidung, wohin du dich mitentwickeln möchtest. Treue zum Wandel ist das Einverständnis in die eigene Weiterentwicklung.

Sonntag, 8. März 2015

Vom Verlieren und Gewinnen


Mein Leben kann ich beschreiben als eine Verkettung und Abfolge von Verlusten. Und das seit vorsprachlicher Zeit. Mir ging es doch so gut im Bauch meiner Mutter. Ich war geborgen und es fehlte mir an nichts. Es war warm und behaglich und die Herztöne der „ersten Göttin“ waren mein zuverlässiger Begleiter. Es hätte doch alles so bleiben können! Dann geschah dieses große vorgeburtliche Ereignis für das ich keine Worte habe. Ich wurde verstoßen! Ich wurde nicht gefragt! Ich musste! Mein erster großer Verlust und meine erste existentielle Krise. Dieses Ereignis ist eingebrannt in meinem Herzen und in allen Zellen meines Körpers.
Von all diesen Körperzellen aus der Babyphase ist keine mehr da. Auch die musste ich als Verlust abschreiben. Aber sie haben die Nachricht von der ersten großen Katastrophe weitertransportiert nach dem Motto: „Auch wenn wir Zellen sterben, die Botschaft geben wir weiter.“  Ich klammerte mich an meine Mutter mit Händen und Füßen so gut ich konnte und solange ich durfte. Aber ich durfte nur für eine gewisse Zeit. Dann wurde ich entlassen – ohne mein Einverständnis! Auch das war noch vorsprachlich. Irgendwann sagte meine Mutter: „Du kannst jetzt selber laufen. Du bist mir zu schwer!“ Sie verweigerte mir manchmal ihren sicheren Arm. Und dann immer öfter. Auch aus dieser Zeit existiert keine einzige Körperzelle mehr. Keine hat es überlebt. Dieser Weg des „Entzuges“ von meiner Mutter ist ebenfalls in meinem Körper eingespeichert, sprachlos aber spürbar.
Meine Mutter habe ich in vielen kleinen Schritten verloren. Der Verlust sitzt tief, tiefer als ich ahne. Bis heute bin ich traumatisiert! Ich rede nicht darüber, denn ich bin ja ein Erwachsener. Ich kann auf meinen Füßen stehen und habe mich aktiv und einverständlich von meiner Mutter getrennt. Ich habe den Verlust überlebt. Dennoch glaube ich, dass der Verlust mehr war als ich verkraften konnte. Er hat mich überfordert.
Jetzt habe ich nur von den ersten bedeutenden Verlusten gesprochen. Es folgten viele weitere. Die ersten Freunde wollten nicht mehr mit mir spielen. Meine erste Kindergärtnerin hat mich einfach verlassen und den Kindergarten gewechselt. Meine einzige noch lebende Oma in Kindertagen wollte auch nicht bei mir bleiben. Sie verließ mich als ich drei Jahre alt war. Den Verlust des Kindergartens verkauften mir die Erwachsenen mit der Vorfreude auf die Schule um mir diese wieder nach vier Jahren zu nehmen. Und ständig musste ich zu meiner Gesundheit Ade sagen, wenn mich ein Asthmaanfall überfiel.
Merkwürdig! Immer dann, wenn ich es mir so richtig gemütlich gemacht habe! Wenn ich so richtig angekommen war! Wenn ich ganz meinen Platz eingenommen hatte – wurde es mir genommen. Selten freiwillig! Manchmal mit meinem Einverständnis und nach einem längeren Weg der Einsicht.
Sämtliche Schulen habe ich verloren, meine zwei Universitäten und alle Professoren. Keine Arbeitsstelle konnte ich auf die Dauer halten. An manchen durfte ich länger bleiben, an der letzten sogar relativ lange. Am Ende habe ich jedoch alle Stellen verloren.
Als Fußballer bin ich kläglich gescheitert. Wenn es nur auf mich angekommen wäre, dann hätte ich nur verloren. Über die zerbrochenen Freundschaften möchte ich gar nicht sprechen, das würde zu stark schmerzen.
Na, soll ich weitermachen oder reicht es? Was geht jetzt gerade in dir vor? Denkst du: „Der arme Kerl!“ oder „Nicht nur du, ich auch!“ „Ich noch viel mehr!“ „Ich hör auf zu lesen, das hält ja kein Mensch aus!“
Ich gebe dir Recht. Ich rede normalerweise nicht so. Das verbiete ich mir als Berufsoptimist. Wenn ich so denken würde, käme niemand mehr zu mir in die Beratung.
Und dennoch! Es stimmt! Du und ich, wir haben im Leben alles verloren. Das ist quasi der Preis des Lebens überhaupt! Du verlierst! Ständig! Unbemerkt sterben deine Zellen. Schon bahnt sich das Ende des Berufslebens an. Deine Kinder verlassen dich. Dein Haus verliert an Substanz und auf deinem Totenbett bleibt dir nichts mehr.
Ich könnte ja wie ein Held mich den Verlusten tapfer stellen! Kann ich nicht gut, es tut so weh! Es schmerzt immer noch! Ich denke, ich bin damit fertig, und dann geht es wieder los. Noch eine Schleife! Neue Freunde, neue Arbeit, neue Urlaube… und todsicher kommt der Verlust. Ich kann dem nicht entweichen. Ich möchte es verhindern. Darum habe ich ja ein Bankkonto, eine Arbeitslosenversicherung, eine Rente in Aussicht, mein Bankkonto und meinen Hausarzt. So kann ich die Dinge noch ein wenig zusammenhalten. Aber auf die Dauer?
Wenn dies jetzt der letzte Satz wäre würdest du vielleicht vermuten, dass ich dich in deinen persönlichen Karfreitag gestürzt habe. Es sei denn, dass du dich erfolgreich wehrst und innerlich auf Abstand gehst zu meinen Zeilen. Ich verleite dich gerade zu einem intensiven Depressionsschub. Ich glaube aber, dass du gut auf dich aufpassen wirst.
Jetzt mache ich noch eine Biege! Ja, ich habe ständig verloren. Ich trage viele Wunden und Narben mit mir herum und manche lassen sich ganz schnell öffnen. Aber weißt du, da gibt es noch etwas anderes. Ich bin nicht gestorben. Weder körperlich noch emotional. Ich bin immer wieder aufgestanden! Ich bin mal etwas länger liegengeblieben. Es war auch nicht immer leicht. Aber ich bin aufgestanden. Jedes Mal! Manchmal sofort, manchmal nach etwas längerer Zeit, aber ich bin aufgestanden. Wie habe ich das bloß hinbekommen? Ich hatte Grund genug zum Liegenbleiben. Wie ist das bei dir? Bist du auch immer wieder aufgestanden? Irgendwann? Vielleicht nicht mit einer großen Hoffnung? Aber einfach so? Du bist aufgestanden!
Ich mache noch eine Biege! Ich bin nicht nur aufgestanden, sondern ich bin immer wieder mit etwas angefangen. Immer wieder! Ich musste von einem Ort wegziehen und fand einen neuen Platz. Da fing ich neu an. Wie oft habe ich das gemacht? Ich muss es nicht zählen! Wie oft hast du das schon in deinem Leben gemacht? Ehrlich gesagt: Ich mache das so gut wie jeden Tag. Jeden Tag fange ich einfach neu an. Ich drücke auf den Knopf am Wecker und sage mir: „Heute fange ich neu an!“ „Heute entscheide ich mich für mein Hemd, mein Frühstück und meine Arbeit.“
Irgendwann kam bei mir eine unglaubliche Erkenntnis! So zuverlässig wie die Zeiger einer Uhr folge ich einem bestimmten Lebensgesetz. Ich gewinne und verliere um wieder zu gewinnen und wieder zu verlieren. Ich schaffe Ordnung und Chaos und den Wechsel von Ordnung und Chaos.
Diese Gedanken kommen mir in der Fastenzeit. Ich sehe auf das Leben von Jesus. Ich sehe, wie er Freunde fand und seine Botschaft erzählte. Ich höre von seinen Wundern und Taten. Ich staune!
Aber in diesen Tagen höre ich von seinen großen Verlusten. Er verliert seine Freunde. Die ziehen sich zurück und verleugnen ihn. Ich sehe ihn auf einem Esel sitzen und die Menschen jubeln: „Unser König!“ Nur wenige Augenblicke später der Verlust der Würde, des Ansehens, der Liebe, des Lebens. Ein unglaublich kraftvoll schwingendes Pendel mit den Extremen von Begeisterung und Enttäuschung und von Tod und Leben.
In mir gibt es eine Stimme die fragt: „Wer oder was hält das alles zusammen? Was befindet sich am oberen Ende des schwingenden Pendels? Was im Inneren? Welche Kraft treibt es an?“ Ein österlicher Impuls kommt mir entgegen: Der Kitt, der alles zusammenhält, ist die Liebe! Entweder in der positiv erfüllten oder in der ersehnten und vermissten Weise. In den Kar- und Ostertagen werden wir hin- und hergerissen. Wir erleben unsere eigenen Verluste noch einmal neu, das Aufstehen und die Neubeginne. Wir leben dieses Drama so lange bis wir sagen: „Einverstanden!“ „Jetzt ist es gut!“ „Ich bin im Frieden!“